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Die Twitch Streamerin Emilycc filmt sich ein Jahr lang 24 Stunden pro Tag – auch während sie schläft. Damit stellt sie nicht nur einen Weltrekord auf, sondern verdient auch tausende Dollar.
Emily wird ständig von hunderten Augen beobachtet: Wenn sie an ihrem Computer sitzt und Spiele spielt, wenn sie YouTube-Videos ansieht und wenn sie schläft. Jede ihrer Bewegungen dient der Unterhaltung von 129.000 Twitch-Follower:innen, so wie bei Jim Carreys Figur in der „Truman Show“. Nur, dass sie einer Rund-um-die-Uhr-Überwachung begeistert zugestimmt hat.
„Mein Leben ist ehrlich gesagt ziemlich langweilig“, sagte die 25-jährige Streamerin, die online unter ihrem Kanalnamen Emilycc bekannt ist, gegenüber BuzzFeed News US. „Das ist einfach das, was ich mache. Ich spiele Videospiele, ich chatte mit Leuten, ich hänge mit meinen Haustieren ab.“ Unter dem Trend #Dayinthelife zeigen TikToker:innen, wie langweilig ihr Leben wirklich ist.
Twitch-Streamerin Emilycc hält mit ihrem 365 Tage Livestream den Weltrekord
Seit über einem Jahr ist Emily, die ihren Nachnamen aus Sicherheitsgründen nicht online nennt, 24 Stunden am Tag live vor der Kamera. Sie verdient ihren Lebensunterhalt damit, dass Leute ihr beim Spielen von Videospielen wie „World of Warcraft“ und „Apex Legends“ zusehen.
Gelegentlich chattet sie auch mit ihnen. Emily hat gerade den 383sten Tag ihres Livestreamings auf Twitch hinter sich gebracht, und zwar im Rahmen eines „Subathons“ (ein ununterbrochenener Live-Videomarathon). Ziel ist es, damit bezahlte Abonnements zu generieren. Nach Angaben von Twitch hält sie den Weltrekord für den längsten „Subathon“ und hat dabei Tausende von Dollar verdient.
365 Tage-Livestream auf Twitch: „Ich habe noch keine Lust aufzuhören“
„Ich denke, ich werde zwei volle Jahre lang streamen“, sagte sie gegenüber BuzzFeed News US. „Das ist das Ziel. Oder ich werde weitermachen, bis ich aufhören möchte. Jetzt habe ich noch keine Lust, aufzuhören.“ Für Emily ist das Streaming ein ganz normaler Teil ihres Lebens.
Im Oktober 2016 kündigte sie ihren Job als Kassiererin bei einer CVS-Apotheke, um Vollzeit-Streamerin zu werden – ein Traumjob für einen Teenager, der gerne Videospiele spielt. In sieben Jahren hat sie nur zwei Wochen Pause vom regulären Streaming gemacht. Obwohl es auf Twitch viele sanfte Lo-Fi-Beats und ASMR-Videos gibt, neigen Gameplay-Kanäle wie der von Emily normalerweise dazu, reiz überflutend zu sein.
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Während des Twitch-Livestreams spielt Emily Videospiele
Bei einem typischen Stream der größten Twitch-Stars sieht man einen großen Bildschirm, auf dem das Videospiel zu sehen ist, einen kleinen Bildschirm mit dem Gesicht der streamenden Person, die dazu redet. In einem großen Kommentarfeld blinken alle mögliche Farben und animierte Emojis in schneller Geschwindigkeit auf.
Im Gegensatz dazu zeigt Emilys Stream am Mittag eines beliebigen Dienstags sie im Bett, den Kopf unter einer Decke verborgen. Ein großer, flauschiger Hund liegt zu ihren Füßen, und eine Katze tigert in der Nähe herum. Im Hintergrund sind Regengeräusche zu hören, und eine leichte Brise weht über den vor ihrem Computer aufgestellten Greenscreen. Keine Kommentare.
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Streamerin Emily teilt ihren Alltag mit ihren Follower:innen auf Twitch
Sie hat sich in ihrem kleinen Appartment in Austin (Texas, USA) ein ruhiges Leben eingerichtet. 200 von uns schauen zu. Wahrscheinlich wird sie sich bald selbst beim Spielen eines Horror- oder Actionspiels streamen, aber für den Moment bleibt es ruhig.
„Ich bin so daran gewöhnt, dass ich ständig gestreamt werde und die Leute mich beobachten, dass ich einfach mein Leben lebe und tue, was immer ich will“, sagte Emily. Kurz nach unserem Interview begannen die Leute im Chat, ihr Fragen zu stellen: Ob BuzzFeed über sie schreiben würde? Emily antwortete, sie sei sich nicht sicher. „Buzzfeed: Fülle dieses Quiz aus, um herauszufinden, welche Art von Emily du bist“, schrieb jemand in ihr Chatfeld. Emily lachte nur, als sie das las, und machte weiter.
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Mit Spenden können sich Follower:innen auf Twitch einige Extras kaufen
Eine:r Twitch-Streamer:in auf der Plattform zu folgen, ist kostenlos, aber ein Abonnement kostet 4,99 Dollar (etwa 4,80 Euro) pro Monat. Mit einem Abonnement (auch Sub genannt) erhält man Zugang zu exklusiven Vorteilen – zum Beispiel erhält man mit einem Abonnement von Emilys Kanal benutzerdefinierte Chat-Emotes, Zugang zu ihrem Discord und Snapchat und exklusive Filmabende.
Für einmalige Spenden erhält man einen Shoutout im Stream oder die Möglichkeit, Geräusche abzuspielen, beispielsweise Furzgeräusche, die Emilys Follower:innen auslösten, während ein Fotograf von BuzzFeed News US anwesend war. Subathons sind wie Spendensammelaktionen für Kreative. Für Emily erhöht jedes Abonnement oder jeder finanzielle Beitrag die Zeit, die sie zum Streamen hat.
365 Tage-Livestream auf Twitch: „Denke nicht darüber nach, wie viel ich verdient habe“
Als sie anfing, verlängerte ein Sub ihre Streming-Zeit um drei Minuten. Jetzt dreht sie an einem Rad, um zu sehen, wie viel Zeit sie noch hat. Die Spenden und bezahlten Abonnements ihrer 129.000 Follower:innen machen inzwischen ihr gesamtes Einkommen aus. Wie viel sie damit verdient, verrät sie nicht. Im Gegensatz zum Streamer MontanaBlack, der seinen Kontostand geleakt hat.
„Ich denke nicht wirklich darüber nach, wie viel Geld ich verdient habe. Ich habe es nie berechnet“, sagte sie BuzzFeed News US. „Es ist genug, um zu leben und zu haben, was ich brauche.“
Andere Twitch-Streamer:innen setzen sich ein Zeitlimit für ihre Subathons und bieten Anreize für Abonnent:innen, sogenannte „Sub-Ziele“. So versuchen sie, so viele wie möglich von ihnen zu erreichen. Kürzlich war Ludwig 50 Stunden lang in einem Glaskasten gefangen, sammelte 300.000 Dollar für wohltätige Zwecke und bekam dabei einen schrecklichen Haarschnitt verpasst.
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So bescheiden geht Emily mit dem Livestream-Rekord um
In der Vergangenheit setzte sich Emily Sub-Ziele. Sobald sie eine bestimmte Abonnentenzahl erreicht hatte, tat sie etwas Lächerliches oder etwas, das von ihrem Publikum vorgeschlagen wurde. „Ich habe mich in einem Speckanzug unter der Dusche gestreamt und mir dann Milch über meinen Kopf geschüttet“, sagt sie. „Das war seltsam. Keine Ahnung, warum ich das getan habe.“
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Zu krasse Stunts passen nicht zu Emilys Art. Ihre stille Bescheidenheit zeigte sich deutlich, als sie BuzzFeed News US erzählte, dass sie sich selbst nur selten für erfolgreich halte. Schließlich sei ihr Publikum viel kleiner als das von größeren Streamer:innen auf der Plattform. Deren Videos schaue sie sich eigentlich nur an, wenn sie abseits der Kamera auf der Toilette sitze. Ihr bisher schönster Moment während des Subathons war, als sie ihren 365. Streaming-Tag mit Dekoration und einer schlichten Online-Party feierte.
Streamerin Emiliycc hat schon längst einen Weltrekord gebrochen
Aber sie stellte damals nicht einmal einen Weltrekord auf. Das hat sie schon vor langer Zeit getan. Tatsächlich ist niemand auch nur annähernd an das herangekommen, was sie geschafft hat. Ambish, der 115.000 Follower:innen hat, hat auf Twitch gerade 140 Tage ununterbrochen gestreamt. Das ist nicht einmal halb so lang wie Emilys Stream bisher.
Und Emily hat vielleicht nicht Millionen Follower:innen, aber sie wird ständig von Hunderten von Menschen beobachtet – sogar wenn sie schläft. Dass sie beim Schlafen beobachtet wird, ist etwas, über das sie nicht nachdenkt. „Ich denke nicht darüber nach, dass mich Leute beim Schlafen beobachten“, sagte sie. „Aber ich habe die wenigsten Zuschauer:innen, wenn ich schlafe, und das macht mich glücklich.“
Der tägliche Twitch-Livestream schränkt Emilys Alltag ein
Sie denkt vielleicht nicht viel über den Stream nach, aber er hat zweifellos Auswirkungen auf ihr tägliches Leben. Emily verbringt die meiste Zeit zu Hause und verlässt den Stream nur, um kurz mit ihrem Hund Gassi oder auf die Toilette zu gehen.
Wenn sie „IRL“ (dt. im echten Leben) ist, also wenn sie tatsächlich etwas unternimmt, muss sie alles auf ihrem Handy live streamen. Vor ein paar Tagen war sie mit einer Freundin auf einem Rave, musste aber früher gehen, weil der Empfang nicht gut genug war, um weiter zu streamen. Bald wird sie auch ihren Friseurtermin streamen. Dabei zeigt eine Studie, wie gut es unserem Wohlbefinden tut, mal auf das Smartphone zu verzichten.
365 Tage-Livestream: So massiv beeinflusst das tägliche Streamen Emilys Leben
Ihr nicht enden wollender Stream hat auch Auswirkungen auf andere Menschen. Fremde Menschen in der Außenwelt verstehen nicht immer, was sie in der Öffentlichkeit tut, und sie hat es aufgegeben, es zu erklären. Einige ihrer Offline-Freund:innen wollen nicht in ihrem Stream zu sehen sein. Um sie zu sehen, muss sie den Stream in ihrem Zimmer laufen lassen und zurückeilen.
Für Dates oder eine Beziehung bleibt auch keine Zeit. Orte, an denen der Internetempfang für einen Stream nicht stark genug sein könnte, meidet sie und sie hat Angst, in ein Flugzeug zu steigen, weil sie die Verbindung verlieren könnte. Eine enge Beziehung zu ihren Abonnent:innen hat sie nicht, weil sie nicht persönlich mit ihnen spricht. Wenn sie kann, unterhält sich aber gerne mit ihnen.
Im Chat von Emilys Twitch-Stream finden sich auch viele Hasskommentare
„Ich bin wirklich glücklich und dankbar, dass ich das machen kann“, sagte Emily. „Alle unterstützen mich so sehr.“ Naja, nicht alle. Emily sagte, dass sie in ihrem Chat auch täglich beleidigende oder grausame Dinge lese. Sie registrierte das, will sich davon aber nicht aus der Ruhe bringen lassen, obwohl Mobbing echt alles andere als harmlos ist. Emily blockt Hater und macht weiter, wobei sie den Hass genauso verdrängt wie den Gedanken, dass Leute sie beim Schlafen beobachten – und die finanzielle Seite ihres Jobs.
Im Gegensatz zu den Top-Streamer:innen auf der Spitze des Twitch-Bergs, braucht sie keine energiegeladenen Programme, um ihr Stammpublikum anzulocken. Vielleicht ist es ihr gerade deshalb gelungen, den Stream so lange am Laufen zu halten.
Durch das tägliche Streaming hat sie sich ein paradoxes Leben in ständiger stiller Einsamkeit unter Beobachtung geschaffen. Bezahlt zu werden, um den ganzen Tag herumzuhängen und Videospiele zu spielen, ist der Traum vieler, aber dieselbe Isolation und Beobachtung könnte für andere ein totaler Albtraum sein. Für Emily ist es einfach das Leben – ein alltägliches, verdauliches, rekordverdächtiges Leben.
Autorin ist Kelsey Weekman. Dieser Artikel erschien am 25. November 2022 zunächst auf buzzfeednews.com. Aus dem Englischen übersetzt von Aranza Maier.